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Die Reggio- Pädagogik

Die Reggio- Pädagogik ist eine Bildungsphilosophie aus der norditalienischen Stadt Reggio Emilia. Sie versteht Kindheit als eine eigenständige, wertvolle Lebensphase und Kinder als kompetente, neugierige und kreative Persönlichkeiten, die sich ihre Welt selbst erschließen und sie zugleich aktiv mitgestalten.

Wichtig: Die Reggio- Pädagogik ist kein fertiges Konzept, dass 1:1 in die Praxis übertragen werden kann, sondern eine Haltung. Sie fordert pädagogische Fachkräfte dazu auf, Kinder von Anfang an als kompetente Persönlichkeiten wahrzunehmen, ihre Fragen und Ideen ernst zu nehmen und gemeinsam Räume für Entdeckungen und Lernprozesse zu eröffnen.

Zeitgemäßer denn je

Zeitgemäße Kulturen in der Reggio- Pädagogik zeigen sich als lebendige Gemeinschaften, die sich durch Beteiligung, Austausch und enge Beziehungen ständig neu gestalten. In diesem Miteinander entstehen Werte wie Solidarität und Empathie, die den Bildungsalltag bereichern und zugleich zukunftsfähig machen. Es ist eine offene Kultur des gemeinsamen Lernens und Wachsens, die Kinder wie Erwachsene gleichermaßen trägt und verbindet.

Zentrale Grundgedanken

Kind im Mittelpunkt

Kinder sind von Beginn an aktive GestalterInnen ihrer Welt. Sie bringen eigene Ideen, Fragen und Ausdrucksweisen mit und verfügen über eine natürliche Neugier, die ihr Lernen antreibt. In der Reggio- Pädagogik gilt das Kind als kompetentes Individuum, das seine Umwelt erforscht. Lernen entsteht dabei nicht durch vorgegebene Programme, sondern aus dem Forscherdrang, den Interessen und den Hypothesen der Kinder. Die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte besteht darin, diese Impulse wahrzunehmen, zu begleiten und Räume zu schaffen, in denen Kinder eigenständig Entdeckungen machen können.

Bedeutung der Beziehung

Bildung ist immer Beziehungsarbeit. Kinder lernen nicht isoliert, sondern in sozialen Beziehungen – mit anderen Kindern, mit pädagogischen Fachkräften, mit Familien und der Gemeinschaft. In der Reggio- Pädagogik hat die Qualität dieser Beziehungen einen zentralen Stellenwert. Sie sind geprägt von Respekt, Achtsamkeit und einem aufrichtigen Interesse aneinander. Die pädagogische Fachkraft ist dabei vor allem Zuhörerin, Begleiterin und Impulsgeberin. In dieser Haltung eröffnet sich ein Raum, in dem Kinder Vertrauen entwickeln und sich in ihrer ganzen Persönlichkeit entfalten können.

Raum als „dritter Pädagoge & Ästhetik“

Der Raum wird in der Reggio- Pädagogik bewusst als „dritter Pädagoge“ verstanden. Er ist nicht bloß ein Raum, sondern ein aktiver Mitgestalter des pädagogischen Prozesses. Eine durchdachte Raumgestaltung vermittelt Sicherheit, Geborgenheit und zugleich Inspiration. Unterschiedliche Bereiche laden zu vielfältigen Erfahrungen ein – sei es zum Forschen, Konstruieren, Gestalten, Bewegen oder zur Ruhe finden. Einer meiner (Jennifer Rahmfeld) Leitsätze während der Gruppenzeit lautete: Innere Struktur = äußere Struktur und umgekehrt. Haltung und Klarheit der pädagogischen Fachkräfte prägen unmittelbar die Raumgestaltung. Kinder spüren diese „Ordnung“ als Orientierung und Atmosphäre. So entstehen (Bildungs-) Räume, die Neugier wecken, Begegnung ermöglichen und Kindern das Gefühl geben: Hier bin ich willkommen, hier darf ich mich ausprobieren. Dabei spielt Ästhetik eine zentrale Rolle. Materialien werden so präsentiert, dass sie ansprechend und einladend sind.

Ausdrucksvielfalt der Kinder („100 Sprachen der Kinder“)

Loris Malaguzzi prägte den Begriff und formulierte das Gedicht der „Hundert Sprachen der Kinder“. Gemeint ist, dass Kinder über unzählige Möglichkeiten verfügen, sich auszudrücken, z.B. durch Sprache, Bewegung, Kunst, Musik, Theater, Technik, Naturbegegnungen und viele weitere Formen.

Die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte ist es, diese Ausdrucksweisen wahrzunehmen, wertzuschätzen und sichtbar zu machen. Denn wenn wir Kindern nur eine Ausdrucksform zugestehen wie etwa die verbale Kommunikation, beschneiden wir ihre weiteren vielfältigen Möglichkeiten, ihre Welt zu begreifen, auszudrücken und mitzugestalten. Jede dieser „Hundert Sprachen“ ist ein Fenster in die Gedankenwelt der Kinder und damit ein Schlüssel zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung.

Partizipation und Projektarbeit

Partizipation bedeutet, dass Kinder an Entscheidungen beteiligt sind, die ihr Leben betreffen. In dieser besonderen Pädagogik ist Partizipation gelebte Praxis. Kinder wirken bei der Themenfindung, der Raumgestaltung und der Planung von Projekten mit. Projekte entstehen aus den Fragen und Interessen der Kinder. Gemeinsam mit den pädagogischen Fachkräften werden diese Themen erforscht, dokumentiert und reflektiert. Das Besondere ist, dass Projekte nicht von Erwachsenen vorgeplant werden, sondern sich dynamisch mit den Kindern entwickeln. Sie eröffnen Kindern die Möglichkeit, sich als ForscherInnen, GestalterInnen und Mitwirkende an einer gemeinsamen Kultur des Lernens zu erleben.

Dokumentation

Ein zentrales tool ist die Dokumentation. Beobachtungen, Fotos, Zitate (O-Töne) und Erlebnisse der Kinder werden sichtbar gemacht – oft in Form sogenannter Darstellungen. Dokumentation erfüllt mehrere Funktionen:

Sie macht Lern- und Entwicklungsprozesse für Kinder sichtbar und ermöglicht Reflexion.

Sie schafft Transparenz für Eltern und verdeutlicht, welche Bildungsprozesse ihre Kinder durchlaufen.

Sie unterstützt pädagogische Fachkräfte dabei, das eigene pädagogische Handeln zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Dokumentation ist damit kein „Zusatz“, sondern ein integraler Bestandteil der Arbeit – ein Spiegel der pädagogischen Haltung und ein Medium des Dialogs.

Umsetzungsideen

Gemeinsame Gestaltung

Räume entstehen in der Reggio- Pädagogik in einem gemeinsamen Prozess. Kinder und pädagogische Fachkräfte entwickeln die Gestaltung zusammen: Wünsche, Ideen und Bedarfe werden gesammelt, ausprobiert und regelmäßig reflektiert. Dadurch entsteht ein Raumkonzept, das lebendig bleibt, weil es sich an den Bedürfnissen der Kinder und Erwachsenen orientiert.

Variante 1: Flexible Raumnutzung

Reggio- orientierte Räume sind flexibel. Sie können umgestaltet werden, je nach Projekt, Thema oder aktuellem Bedarf. Diese Offenheit macht es möglich, dass Räume „sprechen“. Sie passen sich dem Lernen der Kinder an, anstatt dieses zu begrenzen. So bleibt die Umgebung ein lebendiges Gegenüber, das mit den Kindern wächst.

Variante 2: Themenräume/ Funktionsräume

Das Atelier

Das Atelier gilt als Herzstück für kreatives Arbeiten. Auch ohne feste atelierista kann ein Kreativraum entstehen, in dem Materialien offen zugänglich und vielseitig einsetzbar sind. Wechselnde Materialien, Bücher und Impulse unterstützen dabei Neugier und Experimentierfreude. Wichtig ist, dass es ein erarbeitetes Raumkonzept gibt, die auf den Bedürfnissen und den Werten der Reggio- Pädagogik abgestimmt ist.

Die Piazza

Die Piazza ist ein zentraler Versammlungsort, der Gemeinschaft im Fokus hat und sichtbar macht. Auch in bestehenden Kindertagesstätten. lässt sich dieser Gedanke umsetzen, z.B. durch die bewusste Gestaltung eines Flurs, Eingangsbereichs oder Mehrzweckraums. Wichtig ist, dass hier Begegnung möglich wird. Gruppen können sich treffen, von Erlebnissen berichten, zusammen musizieren oder gemeinsame Freispielzeit genießen. Die Piazza ist damit nicht nur ein Ort, sondern ein Symbol für Gemeinschaft.

Der Konstruktionsraum

Im Konstruktionsraum erproben Kinder Materialien, Statik und Gleichgewicht. Sie bauen, stapeln und entwickeln eigene Konstruktionen, die oft aus ihren Fragen entstehen. So werden sie zu kleinen ArchitektInnen, die Zusammenhänge von Raum und Stabilität spielerisch begreifen.

Der Forscherraum

Hier können Kinder naturwissenschaftlichen Phänomenen nachgehen. Magnetismus, Wasser, Licht, Pflanzen oder einfache Experimente. Sie formulieren Hypothesen, prüfen sie durch eigenes Ausprobieren und entdecken Freude am forschenden Lernen. Pädagogische Fachkräfte begleiten als Mitforschende.

Die Bibliothek/ Literacy

Die Bibliothek ist ein ruhiger und inspirierender Ort, an dem Kinder Geschichten erleben, Sprache erforschen und in Bilderwelten eintauchen können. Bücher regen Fantasie und Erzählfreude an und eröffnen Gespräche über Themen, die Kinder bewegen. Gleichzeitig bietet dieser Raum Rückzug und Konzentration und unterstützt spielerisch die Entwicklung erster phonologischer Bewusstheit.

Die Holzwerkstatt

In der Holzwerkstatt erfahren Kinder, wie aus einer ersten Idee ein konkretes Konstrukt entstehen kann. Entscheidend ist dabei nicht das fertige Produkt, sondern der Prozess des Gestaltens. Schon im Vorfeld halten Kinder ihre Vorstellungen oft fest. Sei es z.B. anhand von Skizzen, ihrer Materialauswahl oder durch das Benennen dessen, was ihnen an ihrer Idee besonders wichtig ist. Beim Sägen, Hämmern und Schrauben üben sie nicht nur handwerkliche Grundtechniken, sondern entwickeln auch Ausdauer, Problemlösefähigkeiten und Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft.

Der Matheraum

Der Matheraum eröffnet Zugänge zu Zahlen, Mustern, Farbsortierungen, Gewichten und logischen Strukturen. Kinder sortieren, vergleichen, messen und entdecken mathematische Zusammenhänge spielerisch. Mathematik wird hier nicht abstrakt, sondern erfahrbar und verbindet sich ganz nebenbei mit sprachlichen Erfahrungen, die die Entwicklung der phonologischen Bewusstheit unterstützen.

Das Außengelände

Das Außengelände ist ein vielfältiger Erfahrungsraum für Natur und Bewegung. Kinder erleben hier unmittelbar die Jahreszeiten, das Wetter und vielfältige Naturphänomene mit allen Sinnen. Auf Wiesen, zwischen Sträuchern oder beim Beobachten von Pflanzen und Tieren entdecken sie, wie die Natur sich stetig verändert und wächst. Sie sammeln Materialien, experimentieren mit Erde, Wasser und Steinen und entwickeln so ein tiefes Verständnis für ihre Umwelt. Durch diese Erfahrungen erweitern Kinder ihre Umweltkompetenzen und spüren zugleich die Freude an Bewegung im Freien.

Der Bewegungsraum

Im Bewegungsraum machen Kinder grundlegende Körpererfahrungen wie z.B. Gleichgewicht, Kraft, Schnelligkeit und Koordination. Durch freies Ausprobieren oder angeleitete Impulse oder Parcours entstehen Bewegungsgeschichten, Tanz oder rhythmische Spiele. Bewegung wird hier als Ausdrucksform und Lernmöglichkeit sichtbar.

Der Theaterraum

Der Theaterraum lädt Kinder ein, in Rollen zu schlüpfen, Geschichten zu erfinden und Szenen nachzuspielen. Anstelle von festen Kostümen nutzen sie dabei offene Materialien wie bunte Chiffontücher, Wäscheklammern oder einfache unifarbene Requisiten, die Raum für eigene Rollendeutungen lassen. Mit Sprache, Mimik und Gestik entwickeln Kinder Fantasie und Ausdruckskraft. Sie erleben im Rollenspiel, wie es ist, andere Perspektiven einzunehmen, und üben so Empathie, Selbstbewusstsein und soziales Miteinander.

Dokumentation und Partizipation

Räume sind auch Orte der Sichtbarkeit. Erlebnisse und Prozesse werden offen dokumentiert: in Form von Projektdarstellungen, Galerien oder „sprechenden Wänden“. So können Kinder ihre eigenen Lernwege nachvollziehen, Eltern bekommen Einblicke in die pädagogische Arbeit, und pädagogische Fachkräfte nutzen die Dokumentationen für ihre Reflexion und Elterngespräche. Sichtbarkeit bedeutet hier immer auch Wertschätzung – für die Ideen und für den Weg, den Kinder gehen/gegangen sind.

Quellen & weiterführende Lesetipps

Kita-Handbuch: Reggio-Pädagogik – kind- und bildungsorientiert
Artikel zum Reggio-Konzept mit Schwerpunkt auf Identität, Gemeinschaft, Gemeinsinn und Solidarität.
Hinweis: Ein Fachartikel mit Schwerpunkt auf Identität, Gemeinschaft und Solidarität“) und direkt verlinken

Kita-Fachtexte (Knauf, 2017): Reggio-Pädagogik – Herzstücke
PDF mit Übersicht zu Kernideen, u.a. die Bedeutung von Identität, Beteiligung und sozialen Werten.
Hinweis: kostenfreier Download